Kolumne

Warum jede neue Krise die Argumente für saubere Energie stärkt

Eine Kolumne von DR. HENNING STEIN, Global Head of Thought Leadership, Invesco Asset Management

Wie geht es weiter mit der Energiesicherheit?

Die Internationale Energie Agentur (IEA) definiert Energiesicherheit als „ununterbrochene Verfügbarkeit von Energie zu einem bezahlbaren Preis“. Selbstverständlich ist eine derartige ununterbrochene
Energieversorgung allerdings keineswegs, da die dafür benötigten Energiequellen seit jeher ungleichmäßig über die Welt verteilt sind.

In Friedenszeiten hat diese geografische Realität „Energiekooperationen“ und die Ausbreitung der Globalisierung befördert. In turbulenten Zeiten kann sie jedoch gefährliche Abhängigkeiten offenlegen und zu eskalierenden geopolitischen Spannungen führen – wie wir es derzeit erleben.

Gerade in unruhigen Zeiten wird deutlich, wie wichtig das Konzept der Energiesicherheit für zwei wesentliche Komponenten einer funktionierenden Wirtschaft ist: die Verfügbarkeit natürlicher
Ressourcen für die Energieerzeugung und die nationale Sicherheit.

Der Einmarsch Russlands in die Ukraine hat diese Zusammenhänge auf schmerzhafte Weise deutlich gemacht – und das zu einer Zeit, in der die nachhaltige Umstellung auf saubere Energie gerade erst richtig in Gang kommt.

Manche befürchten bereits ein Scheitern der Energiewende, da sich viele Länder gezwungen sehen, ihre Verpflichtungen zum schrittweisen Ausstieg aus fossilen Brennstoffen zu überdenken. Insbesondere Deutschland befindet sich in einem Dilemma.

Einer anderen Sichtweise zufolge könnte sich diese Krise aber auch – wie viele andere vor ihr – als Fortschrittsbeschleuniger erweisen. Schließlich stärkt sie die Argumente für eine schnelle Umstellung auf saubere Energien. Anstatt den Übergang zur Netto-Null-Emissionen-Wirtschaft zu verlangsamen, könne diese Krise diesen Prozess damit sogar beschleunigen.

Die ultimative Krise

Das alles überragende Argument für die Umstellung auf saubere Energie ist und bleibt allerdings der Klimawandel. Selbst im Lichte der jüngsten Ereignisse ist dies immer noch die größte Bedrohung für die Menschheit – heute wie auch in absehbarer Zukunft.

Mit dem Ziel, die globale Erwärmung in diesem Jahrhundert auf 1,5 ºC über dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen, hat das Pariser Abkommen im Jahr 2015 die Bemühungen um eine Reduzierung der
Treibhausgasemissionen (THG-Emissionen) neu belebt. Regierungen und Unternehmen in aller Welt haben sich dem Ziel einer Rückführung der THG-Emissionen auf netto Null bis 2050 oder früher verschrieben.

Doch es bleibt noch viel zu tun. Climate Action Tracker zufolge bewegen wir uns immer noch auf eine globale Erwärmung von 2,4 ºC bis zum Jahr 2100* zu. Berechnungen der Climate Policy Initiative zufolge
müssen die Investitionen in Klimaschutzmaßnahmen um fast 600 % erhöht werden, um die Ziele für die Emissionssenkung bis zum Ende dieses Jahrzehnts zu erreichen.

In seinem jährlichen Global Risks Report hat das World Economic Forum (WEF) wiederholt auf die Dringlichkeit der Lage hingewiesen. Das WEF nutzt Einsichten der Komplexitätswissenschaft, um das komplexe Wirkungsgefüge der wesentlichen Bedrohungen für unseren Planeten und seine Bewohner zu verdeutlichen. Dabei steht die Klimakrise unverrückbar im Mittelpunkt des komplexen Geflechts miteinander verbundener Risiken.

Anhand der Grafiken des WEF lassen sich zum Beispiel die Verbindungen zwischen dem „Versagen beim Klimaschutz“ und „Infektionskrankheiten“ nachverfolgen. Mit COVID-19 hat letztgenannte Art von Krise die internationalen Nachrichten und die Überlegungen der Anleger in den letzten zwei Jahren weitgehend bestimmt.

Genauso lassen sich die Verbindungen zwischen dem „Versagen beim Klimaschutz“ und „Konflikten zwischen Staaten“ aufzeigen. Diese führen uns zu der Krise, die aktuell die internationalen Schlagzeilen und das Denken der Anleger beherrscht.

Von der Krise zum Katalysator?

Angesichts des Krieges in der Ukraine und des daraus resultierenden Konfliktes zwischen Russland und dem Westen ist bereits von einer „globalen Energiekrise“ die Rede. Die Auswirkungen sind derzeit in Europa am stärksten zu spüren – und nirgendwo so sehr wie in Deutschland.

Im Dezember 2019 stieß US-Präsident Donald Trump Russland und der EU mit einem US-Gesetz vor den Kopf, das Sanktionen gegen alle am Bau der Nord Stream 2-Gaspipeline beteiligten Unternehmen verhängte. Er bezeichnete das Pipeline-Projekt als Instrument der politischen Druckausübung, das Deutschland zur „Geisel Russlands“ machen könnte.

Durch die Ukraine-Krise ist deutlich geworden, wie abhängig Deutschland tatsächlich von Russlands staatlichem Gasunternehmen Gazprom ist. Bundeskanzler Olaf Scholz will diese hohe Abhängigkeit verständlicherweise so schnell wie möglich beenden, hat aber offen zugegeben, dass dies kurzfristig kaum
möglich ist.

Da Europa insgesamt mehr als 75 % des russischen Gases abnimmt, hat auch Moskau viel zu verlieren – nicht zuletzt, wenn der Westen weitere Sanktionen verhängen sollte. Es ist vielleicht bezeichnend, dass das Land nur wenige Wochen vor dem Beginn seiner „militärischen Spezialoperation“ mit China einen 30-Jahres-Vertrag über die Versorgung über eine neue Pipeline abgeschlossen hat.

Durch die allgemeinen Unruhen sind die Gas- und Ölpreise und damit auch die Großhandelspreise für Strom gestiegen. Nur wenige Monate, nachdem der Präsident der Klimakonferenz COP26 verkündet hatte, dass „das Ende der Kohle in Sicht“ sei, werden auch fossile Brennstoffe wieder stärker subventioniert.

Inmitten all dieser Ungewissheit könnte man leicht zu dem Schluss kommen, dass die Energiewende auf der Kippe steht. Tatsächlich spricht jedoch viel dafür, dass die aktuellen Ereignisse die Umstellung auf saubere Energie sogar beschleunigen werden.

Das Zeitalter der Energietechnologien

Einer Studie von BloombergNEF aus dem Jahr 20211 zufolge könnten Investitionen von bis zu 173 Billionen Dollar erforderlich sein, um bis 2050 eine klimaneutrale Wirtschaft zu erreichen. In einer Anfang dieses Jahres veröffentlichten Studie spricht McKinsey & Company2 sogar von bis zu 275 Billionen Dollar.

Derartige Prognosen verdeutlichen zwei aus Anlegersicht sehr interessante Dinge: erstens, dass die technologiegetriebene Transformation des Energiesektors eine einmalige Wachstumschance darstellt, und zweitens, dass das Zeitalter der „Energietechnologie“ angebrochen ist.

Mit disruptiven Technologien könnten innovative Energy-Tech-Unternehmen dafür sorgen, dass das Ziel „Netto-Null-Emissionen“ deutlich früher als von Politik und Wirtschaft bislang avisiert erreicht werden kann. Dafür werden sie jedoch erhebliches Kapital benötigen. Und dieses Kapital wird zu großen Teilen
aus dem privaten Sektor kommen müssen.

Im Jahr 2020 wurden gut 500 Mrd. USD in Energietechnologien investiert3. Damit stehen wir, was die Erschließung des Potenzials dieses Sektors angeht, also erst ganz am Anfang. Unserer Meinung nach werden sich durch die radikalen Lösungen, die fast jeden Aspekt unseres Lebens verändern könnten, eine Fülle neuer Anlagechancen ergeben.

Die positive Disruption würde zweifellos auch die Energiesicherheit betreffen. Konventionelle Energiequellen mögen, wie bereits erwähnt, ungleich verteilt sein. Quellen sauberer Energie müssen jedoch nicht unbedingt in rohstoffreichen Ländern oder Regionen konzentriert sein.

Damit würde eine weitreichende Umstellung auf saubere Energien das Risiko einer Energiekrise, wie wir sie aktuell erleben, erheblich verringern oder sogar beseitigen. De facto hätten wir es mit einer Demokratisierung der Energieversorgung – und Energiesicherheit – zu tun.

Schnellere Fortschritte und Genesis-Trends

Wie wir gesehen haben, steht die Klimakrise im Mittelpunkt des Risikogefüges, das den Planeten und seine Bewohner bedroht. Beim Umgang mit der Klimakrise können uns die Krisen, die um sie herum entstehen, daher wertvolle Erkenntnisse liefern.

In diesem Zusammenhang hat uns die COVID-19-Pandemie etwas Wichtiges gelehrt: welche Kräfte sich freisetzen lassen, wenn herkömmliche Innovationsbarrieren durchbrochen werden. Dass außergewöhnliche Umstände rasante technologische Fortschritte anstoßen können, haben wir in einer Vielzahl von Sektoren gesehen.

So hat auch der Konflikt in der Ukraine und seine Auswirkungen auf die Nachfrage nach und das Angebot an fossilen Brennstoffen die dringende Notwendigkeit einer Umstellung auf saubere Energie noch deutlicher gemacht. Auch hier könnten technologische Fortschritte – in Form von Energietechnologien – viel schneller realisiert werden als bisher erwartet.

Damit weist die Energietechnik viele Merkmale eines „Genesis- Trends“ auf. Von einem solchen, auch als „Big Bang“-Anlagethema bezeichneten Trend spricht man, wenn das Wachstum einer Technologie oder eines Marktes ausreicht, um eine bedeutende und dauerhafte Veränderung auszulösen.

Investoren, die derartige Trends frühzeitig erkennen und entsprechend investieren, könnten langfristig, unseres Erachtens, mit attraktiven Renditen rechnen. Das gilt insbesondere für Anleger, die einsteigen, wenn sich der Trend gerade erst herausbildet oder noch ganz am Anfang steht. Die Gewinne derjenigen, die von Anfang an auf das Internet oder das Smartphone gesetzt haben, sprechen diesbezüglich für sich.

Inmitten kurzfristiger Turbulenzen und Lärm fallen derartige strukturelle Entwicklungen nicht immer ins Auge – aber Tatsache ist, dass der nächste Trend dieser Art immer mehr Fahrt aufnimmt. Eine Krise – COVID-19 – hat gezeigt, was getan werden kann, eine andere – der Ukraine-Konflikt –, was getan werden muss. Am Thema saubere Energie führt kein Weg mehr vorbei – in guten wie auch in schlechten Zeiten.


Über den Autor:

Dr. Henning Stein ist Global Head of Thought Leadership sowie
Fellow bei Invesco Asset Management mit einem Cambridge Judge Business School Abschluss.


Dies ist ein Artikel aus unserem FINANCIAL PLANNING Magazin. Hier geht es zu der aktuellen Ausgabe: