Kolumne

Frustriert von der Flut kurzfristiger Signale? Dann investieren Sie zukunftsorientiert!

Eine Kolumne von DR. HENNING STEINGlobal Head of Thought Leadership, Invesco Asset Management

Ein bedachter Blick auf das, was kommt

Wie wird der Aktienmarkt in 50 Jahren aussehen? Welche Unternehmen, Branchen oder Industrien werden verschwunden sein und welche könnten sie ersetzt haben? Welche der heutigen Innovationen werden unseren Alltag bestimmen? 

Wie es der US-amerikanische Baseballstar Yogi Berra so treffend zusammenfasste: „Es ist schwierig, Vorhersagen zu machen – vor allem über die Zukunft.“ Die Realität ist: Niemand kann von sich behaupten, mit perfekter Voraussicht gesegnet zu sein – am wenigsten Anleger.

Was jedoch möglich ist, sind informierte Prognosen auf der Grundlage von Tatsachen – in Bezug auf das, was wir wissen, was wir zu wissen glauben und was wir noch nicht sicher wissen können. Ein solcher Ansatz untermauert zunehmend die Kunst und Wissenschaft der langfristigen Geldanlage.

Langfristige Investmentansätze sollten die Trends berücksichtigen, die unser Leben und unseren Planeten erkennbar verändern. Damit einhergehend müssen wir uns Gedanken über strukturelle Veränderungen machen und transformative Entwicklungen identifizieren, anstatt kurzfristigen Signalen hinterherzulaufen.

Das bedeutet, dass wir genau erfassen müssen, was um uns herum passiert, Wirkungszusammenhänge verstehen und erkennbare Trends extrapolieren. Es kann sogar bedeuten, dass wir uns ein Zukunftsszenario vorstellen – ganz egal, wie verrückt es erscheinen mag oder wie weit es in der Ferne liegt – und von da aus zurückdenken.

Dreh- und Angelpunkt vieler langfristiger Anlagethemen, die aktuell im Fokus der Märkte stehen, sind innovative Entwicklungen und ihr Potenzial, positive, dauerhafte Veränderungen zu bewirken. Dazu gehören der Übergang zu einer Netto-Null-Emissionen-Welt, der Umbau der Agrar- und Ernährungssysteme und – als vielleicht spannendster Trend von allen – die Entwicklung des Metaversums. 

Einführung in das Metaversum: Umbruch in großem Stil

Facebook-Gründer Mark Zuckerberg hat das Metaversum als „verkörpertes Internet“ bezeichnet. In dieser digitalen Sphäre werden wir alles, was wir heute auf unseren Smartphones, Tablets oder Laptops veranstalten und erledigen – wie Einkaufen, Freundschaften pflegen, Spielen, Livestreaming, Lesen und Lernen – in gemeinschaftlichen, vollständig immersiven, computergenerierten Umgebungen tun können.

Erstmals erwähnt wurde ein Konzept des Metaversums im Science-Fiction-Roman Snow Crash aus dem Jahr 1992. Der Autor des Buchs, Neal Stephenson, stellte sich eine virtuelle 3D-Welt vor, in der Menschen über Avatare untereinander und mit Software interagieren können.

Isaac Asimov zufolge sollte Science-Fiction „das Unvermeidliche vorhersehen“. Einige Meilensteine auf dem Weg ins Metaversum wurden mittlerweile erreicht, etwa mit Spielen wie Second Life und Fortnite oder mit Kryptowährungen und Blockchaintechnologie.

Neben dem anhaltenden technologischen Fortschritt tragen auch demografische Entwicklungen dazu bei, dass der Traum des Metaversums Wirklichkeit wird. Die Generation Z steht dem besonders positiv gegenüber: Einer Umfrage zufolge können sich viele dieser jungen Menschen vorstellen, sich in einer virtuellen Spieleumgebung aufzuhalten, auch ohne sich am Spiel selbst zu beteiligen. 

Hinzu kommt die Covid-19-Krise als entscheidender Auslöser eines Umdenkens in Bezug auf menschliche Interaktionen. Im Nachgang von Lockdowns und anderen Beschränkungen sind viele Menschen heute eher bereit, privat wie beruflich virtuell miteinander in Kontakt zu treten.

In Anbetracht all dessen wird schnell deutlich, dass diese Innovation weitreichende Auswirkungen haben dürfte. Sie hat alle Attribute eines „schöpferischen Trends“ – eines Anlagephänomens, bei dem das Wachstum einer Technologie oder eines Marktes zu einem dauerhaften Umbruch führt.

Umwälzende Veränderungen in vielen Sektoren

Emergen Research, ein Beratungsunternehmen, das sich auf disruptive Technologien spezialisiert hat, bezifferte den Marktwert des Metaversums im Jahr 2020 auf fast 48 Milliarden USD und prognostizierte ein Wachstum auf über 280 Milliarden USD bis 2025 und etwa 830 Milliarden USD bis 2028.* Ein derart spektakuläres Wachstum ist typisch für einen schöpferischen Trend. Bei einem solchen Marktwachstum sind in gleich mehreren Sektoren Umwälzungen zu erwarten.

Dadurch bilden sich neue Anlagethemen heraus. Ein kurzer Überblick über einige der Bereiche, die durch die Metaversumtechnologie von Grund auf verändert werden könnten, verdeutlicht die Tragweite dieses Konzepts:

Die Onlinespielebranche ist ein naheliegendes Beispiel. Mehrere Erfolgstitel weisen bereits gestalterische Elemente des Metaversums auf, und Technologien aus den Bereichen virtuelle Realität (VR), erweiterte Realität (AR) und künstliche Intelligenz (KI) werden in der Gamingbranche inzwischen routinemäßig eingesetzt.

Auch soziale Medien und Videokonferenztools dürften fortschrittliche Technologien für ein immersiveres, persönlicheres und gemeinschaftsorientierteres Erlebnis nutzen. Snapchat nutzt bereits AR-Elemente, während Plattformen wie Teams oder Zoom vorerst nur einen Vorgeschmack auf digitale Meetings mit unbegrenzter Teilnahme und Monetarisierungsfunktionen bieten.

In der Telemedizin könnte das Metaversum eine persönlichere Interaktion zwischen Patient und Arzt ermöglichen, während es in der Unterhaltungsbranche die lange überfällige „kreative Zerstörung“ befördern dürfte. Ein grundlegender Wandel ist auch im Bereich E-Commerce absehbar, wo Kunden für ausgewählte virtuelle Produkte bereits mehr bezahlen als für das jeweilige physische Gegenstück.

Architekten und Wegbereiter

Auf all diesen Märkten dürfte das Metaversum für bedeutende Wachstumsimpulse sorgen. Für 2025 wird der Marktwert des Gamingsektors auf bis zu 286 Milliarden USD geschätzt. Der Schätzwert für soziale Medien beträgt bis zu 750 Milliarden USD und der für Videokonferenztools bis zu 50 Milliarden, derjenige für Telemedizin liegt bei bis zu 276 Milliarden USD und der für Onlineunterhaltung bei bis zu 447 Milliarden. Und der für E-Commerce beläuft sich auf bis zu 20 Millarden USD.*

Da ist es keine Überraschung, dass viele Techgrößen auf diesen Markt drängen. Das wohl prominenteste Beispiel ist Meta, ehemals Facebook: Mit der Umbenennung seines Unternehmens lässt Mark Zuckerberg keinen Zweifel an seinen Ambitionen im virtuellen Paralleluniversum.

Es sind aber nicht nur die „üblichen Verdächtigen“, die um diese aufstrebende Milliardenindustrie konkurrieren. Zahlreiche Akteure – Einzelpersonen genauso wie Start-ups und Global Player – werden an der Entwicklung und Umsetzung des Metaversums beteiligt sein. Doch wer genau zu den maßgeblichen Architekten und Wegbereitern gehört, wird vielleicht erst in mehreren Jahren erkennbar sein.

Eine disruptive Entwicklung dieses Ausmaßes wird einen enormen Input aus unterschiedlichsten Quellen erfordern. AR, VR, KI, Computerhardware, 5G-Konnektivität, Kryptowährungen und Blockchain – kein Unternehmen allein kann alles leisten, was für den Aufbau und erfolgreichen Betrieb der neuen virtuellen Welt benötigt wird.

Die Geschichte des Internets zeigt, wie solche Umbrüche aussehen können: Das Internet hat unser Leben nicht auf Knopfdruck revolutioniert und war auch nicht das Werk eines einzigen Technologietitanen. Für das Smartphone gilt das Gleiche. Revolutionäre Umwälzungen finden nur sehr selten über Nacht und im Alleingang statt.

Positive, dauerhafte Veränderungen kommen vielen zugute. Aus Anlegersicht mindestens genauso wichtig ist, dass sie das Ergebnis der Arbeit vieler Architekten und Wegbereiter sind.

Auf der Suche nach wirklichen neuen Normalitäten

Die Entstehung des Metaversums verdeutlicht noch eine weitere wichtige Erkenntnis für vorausschauend investierende Anleger: Vermutungen und Spekulationen sind keine guten Grundlagen für Prognosen langfristiger Trends. Entscheidend ist ein Verständnis der Kräfte, die unseren Lebensalltag in den kommenden Jahrzehnten prägen werden.

In gewisser Weise geht es also darum, die Kluft zwischen den „known knowns“ und den „unknown unknowns“ zu überbrücken. Erstere beziehen sich auf grundlegende Veränderungen, die bereits im Gange sind, deren Tragweite aber noch nicht klar ist. Letztere beziehen sich auf potenziell revolutionäre Entwicklungen, die noch in der Entstehung begriffen oder noch gar nicht erkennbar sind.

Da wir versuchen, uns ein Bild von der Zukunft zu machen, müssen wir aufgeschlossen und offen für Neues sein. Gleichzeitig müssen wir uns dessen bewusst sein, dass innovative und disruptive Prozesse das Gesamtbild weiter verändern könnten – marginal oder grundlegend. 

Für den langfristigen Anlageerfolg ist eine gute Vorstellungskraft daher genauso wichtig wie ein gesunder Realismus. Langfristig zu investieren, kann uns sowohl Mut als auch Flexibilität abverlangen. Sich ein Bild von der Zukunft zu machen, kann sogar Spaß machen – muss aber pragmatisch und praxisorientiert bleiben.

Angesichts der inflationären Verwendung des Begriffs „neue Normalität“ könnte man meinen, dass wir in einer Zeit massenhafter radikaler Umwälzungen leben. Dem ist aber nicht so.

Tatsächlich sind Trends, Veränderungen und Durchbrüche, die unseren Lebensalltag tatsächlich umwälzen könnten, immer noch selten. Auch langfristige Investoren können sich dem ständigen Nachrichtenrauschen unserer Zeit kaum entziehen – sollten es aber versuchen, um die wenigen Trends zu identifizieren, deren enormes Potenzial wirklich zum Tragen kommen kann.


Über den Autor:

Dr. Henning Stein ist Global Head of Thought Leadership sowie
Fellow bei Invesco Asset Management mit einem Cambridge Judge Business School Abschluss.


Dies ist ein Artikel aus unserem FINANCIAL PLANNING Magazin. Hier geht es zu der aktuellen Ausgabe:


* Zugrunde liegende Quellen per 30.06.2022:

• Metaverse

Emergen Research: Metaverse market, by component (hardware, software), by platform (desktop, mobile), by offerings (virtual platforms, asset marketplaces and others), by technology (blockchain, AR and VR, mixed reality), by application, by end-use and by region forecast to 2028.

• Gaming

Mordor Intelligence: Gaming market – growth, trends, COVID-19 impact and forecast (2022-2027).

• Social Media

Research and Markets: Social networking platforms market – forecasts from 2021 to 2026.

• Videokonferenzen

Global Market Insights: Video-conferencing market size, by component (hardware [multipoint control unit, codecs, peripheral devices], software [on-premise, cloud], service [professional, managed]), by type (room-based, telepresence, desktop), by application (corporate enterprise, education, government, healthcare), COVID-19 impact analysis, regional outlook, growth potential, competitive market share and forecast, 2021-2027.

• E-Learning

Report Linker: E-learning market – global outlook and forecast, 2021-2026.

• Telemedizin

Fortune Business Insights: Telehealth market size, share and COVID-19 impact analysis, by type (products and services), by application (telemedicine, patient monitoring, continuous medical education and others), by modality (real-time [synchronous], store-and-forward [asynchronous] and remote patient monitoring), by end-user (hospital facilities, homecare and others) and regional forecast, 2021-2028.

• Onlineentertainment

Allied Market Research: Online entertainment market expected to reach $652.5 billion by 2027 – Allied Market Research.

• E-Commerce

Grand View Research: E-commerce market size, share and trends analysis report, by model type (B2B, B2C), by region (North America, Europe, APAC, Latin America, Middle East and Africa) and segment forecasts, 2020-2027.