Kolumne

Steht Chinas Wachstumsmodell vor dem Kollaps?

von FELIX HERRMANN, CFA, Chef-Volkswirt, ARAMEA Asset Management

In den Jahren vor der Coronakrise war Chinas Volkswirtschaft regelmäßig für bis zu einem Drittel des weltweiten Wachstums verantwortlich. Das Land galt somit durchaus zu Recht als DIE globale Wachstumslokomotive schlechthin. Spätestens seit dem Sommer des vergangenen Jahres hat das chinesische Wachstumsmodell jedoch unübersehbare Risse bekommen, wobei viele Probleme hausgemacht sind. Neben der Regulierungswut der Regierung ist es insbesondere der riesige Immobiliensektor des Landes, der Sorgen bereitet, da er sich ganz offensichtlich in einer substanziellen Schieflage befindet. Die Führung in Peking hat allerdings bereits einen Plan B: Chinas neuer Wachstumsmotor soll die Energiewende werden.

Die stärkere Regulierung vieler Sektoren in China hat im vergangenen Jahr enorme Wellen geschlagen. Hinter der gewachsenen Regulierungswut Pekings steckt jedoch – wie immer in China – ein langfristiger visionärer Plan, der sich unter dem Credo „Common Prosperity“, frei übersetzt „gemeinschaftlicher Wohlstand“, subsummieren lässt. Anleger aus dem Ausland wurden von der heftig geschwungenen Regulierungskeule Pekings dennoch verschreckt. Der wachsende Einfluss der Regierung auf die Privatwirtschaft ist ohne Frage ein Faktor, der die Gewinnaussichten vieler Unternehmen erheblich beeinflusst. Chinas Regierung hat jedoch nicht nur in Bereichen wie Gaming oder Bildung mit dem Aufräumen begonnen. Auch das viel heißere Eisen Immobilienmarkt wurde angefasst – ein Bereich, der essenziell für Chinas Wirtschaft und Gesellschaft ist.

Neben der Tatsache, dass man als junger Mann ohne eigene Wohnung auf dem Heiratsmarkt in China als chancenlos gilt, war Chinas Bevölkerung bis zuletzt der festen Überzeugung, Immobilieninvestments seien ganz generell die beste Art der Altersvorsorge – wohl auch, weil bis dato noch kein Platzen einer Häuserpreisblase im eigenen Land miterlebt wurde. 78 Prozent des privaten Vermögens der Chinesen entfallen auf Immobilien. Zum Vergleich: In den USA sind es „nur“ 35 Prozent. Steigende Preise haben die Nachfrage nach Immobilien in den letzten Jahren weiter angefacht und für einen Bauboom fast epischen Ausmaßes gesorgt. Gut also für die Altersvorsorge vieler Chinesen. Selbst die Entstehung von unbewohnten Geisterstädten konnte den Boom lange Zeit nicht aufhalten. Bereits vor zehn Jahren wurde über unbewohnte Städte in China berichtet. Heute stehen geschätzte 65 Millionen Wohneinheiten in China einfach leer. Peking wiederum hat exzellent an der Verpachtung und dem Verkauf von Grundstücken an die Bauträger verdient. In China gibt es kein individuelles Grundeigentum: In den Städten gehört das Land dem Staat, außerhalb den Bauernkollektiven.

Ein Modell, das lange Zeit funktionierte, und ganz maßgeblich Chinas Wachstum in den letzten zwei Jahrzehnten angeschoben hat. Durch die Coronakrise und vor dem Hintergrund der Zahlungsunfähigkeit gleich mehrerer Immobilienentwickler scheint dieses Modell jedoch mehr als ausgereizt.

Die gute Nachricht: Das Problem wurde frühzeitig erkannt. Durch gezielte Maßnahmen wird nun ein Schrumpfen des Immobiliensektors angestrebt, ohne – und das wird entscheidend sein – Kollateralschäden im chinesischen Finanzsektor anzurichten. Gleichzeitig sollen Wohnungen für ärmere Chinesen erschwinglicher werden. Da sage und schreibe fast 30 Prozent der Wirtschaftsleistung Chinas direkt oder indirekt von Immobiliensektor abhängen (und somit mehr als in jeder anderen großen Volkswirtschaft), muss Peking nun allerdings nicht nur die Probleme in den Griff bekommen, sondern gleichzeitig neue Wachstumsquellen auftun, ansonsten droht in den kommenden Jahren signifikant geringeres Wachstum.

China wäre nicht China, wenn dies nicht längst geschehen wäre: Kein Land der Welt macht so viel Tempo beim Thema Green Investment wie China – und das nicht nur, weil erkannt wurde, wie dramatisch die negativen Folgen des Klimawandels für Chinas Wirtschaft ausfallen können. Die Luftverschmutzung in den großen Städten ist dabei nur eines von vielen Beispielen. Der CO2-Ausstoß soll, wenngleich das Ziel der Klimaneutralität erst bis 2060 und somit später als in der westlichen Welt erreicht werden soll, energisch reduziert werden. Auch Rekorde beim Verkauf von Elektroautos und dem Ausbau erneuerbarer Energien sind Ausdruck des politischen Willens hin zu einem grüneren China.

Höchstwahrscheinlich kann wohl kein anderer als der „grüne Sektor“ die Wachstumsverluste aus dem Immobiliensektor kompensieren. Es bleibt jedoch die Frage, ob letztlich ausreichend Investitionen angezogen werden, um die Lücke zu schließen.


Über den Autor:

Felix Herrmann, CFA, Chef-Volkswirt, ARAMEA Asset Management


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