Blaue Anzüge und Grünflation: Was bedeutet ESG-Integration?
Der ESG-Analyst für Anleihen, von unserem Partner MFS Investment Management, erklärt, was „Grünflation” bedeutet und warum ESG-Integration im aktiven Anleihenmanagement so wichtig ist.
ESG: Strategie oder Faktor?
Für viele Assetmanager scheint ESG eine spezielle Anlagestrategie für werteorientierte Kunden zu sein, die bestimmte Sektoren, Branchen oder Unternehmen ausschließen wollen. Wenn der Kunde einen blauen Anzug haben will, soll er ihn eben haben.
Ich halte ESG eher für einen Faktor, so wie andere Fundamentalfaktoren auch. Aktive Anleihenmanager analysieren Geschäftsstrategie, Umsatzquellen und Gewinnverwendung der Emittenten, Kreditprofile, Herauf- und Herabstufungswahrscheinlichkeiten, Liquidität, Verkaufsmöglichkeiten sowie relative Bewertungen – und ESG.
Ein nicht finanzieller Faktor
ESG ist zwar kein finanzieller Faktor, aber wichtig für das Risikomanagement. ESG-Risiken können finanziell relevant werden und zu hohen Verlusten führen.
Man muss aber wissen, was genau dann passiert. Werden die Umsätze schrumpfen? Werden die Kosten steigen? Oder entstehen finanzielle Verpflichtungen? Ein ganzheitlicher Investmentansatz setzt voraus, dass man ESG-Faktoren versteht. Darauf legen wir großen Wert.
Wichtige Faktoren, Zeithorizonte und Themen: ESG-Integration in der Anleihenanalyse
Für mich als Anleihenanalyst ist der interessanteste Teil meiner Arbeit die Zusammenarbeit mit Credit-Analysten. Ich helfe ihnen zu verstehen, welche ESG-Faktoren wichtig werden können. Wegen der Klimarisiken ist für den Öl- und Gassektor das E besonders wichtig, also Umweltthemen. Wird es demnächst eine CO2-Steuer geben? Und was bedeutet es für den Sektor, wenn die Nachfrage nach fossiler Energie zurückgeht?
Für Banken, andere Finanzinstitute und Dienstleister ist vor allem das S wichtig: Hier spielen soziale Themen wie Humankapital, Kundenbeziehungen und Produktqualität und Produktsicherheit eine wichtige Rolle. Für Dienstleister sind das wichtige Risikofaktoren.
Mit G wie Governance haben sich Analysten bereits befasst, als man den Begriff ESG noch gar nicht kannte.
Zu beachten ist auch, dass Anleihen anders als Aktien einen festen Zeithorizont haben. Man muss deshalb wissen, wann ein ESG-Thema relevant wird. Stellen Sie sich vor, Sie haben eine 3-Jahres-Anleihe und ein bestimmtes ESG-Risiko wird erst in zehn Jahren relevant. Hat das Auswirkungen auf die Bewertung? Kann das Risiko schon heute eine Rolle spielen?
*ESG steht für Umwelt, Soziales und Governance. Bei der Beurteilung von Anlagen können ESG-Kriterien berücksichtigt werden.
Ein weiterer Punkt sind übergreifende Themen. Sie können mehrere Sektoren betreffen, für einen bestimmten Sektor aber besonders wichtig sein. Nehmen wir Automobilhersteller sowie Öl- und Gaskonzerne. Die Auto-mobilbranche ist gerade dabei, Verbrennungsmotoren durch Elektromotoren zu ersetzen, weil der Verkehr zu den größten CO2-Emittenten zählt. Energiekonzerne sind sehr gut in der Projektentwicklung – sie investieren und managen Projektrisiken. Diese Fähigkeiten sind auch bei erneuerbaren Energien wichtig. Einige Öl- und Gaskonzerne investieren verstärkt in erneuerbare Energien und ziehen sich allmählich aus fossilen Energien zurück. Wieder andere versuchen, etwa durch einen niedrigeren Methanausstoß dem Klima weniger zu schaden.
Grünflation verstehen*
Die 1960er und 1970er waren eine Zeit der weltweiten Industrialisierung. Unternehmen mussten um jeden Preis rentabler werden, was manchmal zulasten der Umwelt oder ihrer Stakeholder ging – Gesellschaft, Verbraucher und Mitarbeiter.
Und heute? Die Stakeholder erkennen, dass sie einen Beitrag zum Umweltschutz leisten müssen. Und die Unternehmen erkennen, dass sie ihre Mitarbeiter und die Gesellschaft besser behandeln müssen. Mehr gesellschaftliche Verantwortung der Unternehmen hat aber ihren Preis. Irgendwer muss ihn bezahlen.
Die Unternehmen können die Kosten selbst übernehmen oder sie an ihre Kunden weiterreichen. Bisweilen sind die Kunden bereit, für ein nachhaltig produziertes Premiumprodukt mehr zu zahlen. Manchmal gibt es dazu auch keine Alternative. Wenn Unternehmen nicht nachhaltig werden, werden sie vielleicht vom Markt verdrängt, weil ihre Mitbewerber Nachhaltigkeit als Wettbewerbsvorteil nutzen.
Grünflation ist schon jetzt ein Thema. Sie wird aber noch wichtiger, wenn die Unternehmen mehr für Nach-haltigkeit ausgeben. Für die Herstellung von Elektrofahrzeugen braucht man Metalle wie Nickel, Kadmium und Kupfer. Die Nachfrage nach diesen Nichteisenmetallen und anderen Basismetallen wird enorm steigen, wenn mehr Elektrofahrzeuge nachgefragt werden. Schon jetzt haben sich diese Metalle verteuert.
Ein dritter Aspekt der Grünflation sind physische Klimarisiken: Überschwemmungen, wie man sie früher nur alle 100 Jahre erlebte, kommen jetzt ein Mal im Jahrzehnt vor. Extremwetterlagen schädigen das Ackerland. Es wird weniger fruchtbar, sodass die Lebensmittelpreise steigen.
Und dann ist da noch die Deglobalisierung. Die Repatriierung der Produktion kostet Geld. Außerdem gibt es Zusammenhänge zwischen Deglobalisierung und ESG. Bisweilen wird die Produktion aber auch aus Problemländern repatriiert. Damit tut man etwas für die Corporate Governance.
Wir glauben, dass Grünflation – ob sie gut ist oder schlecht – unvermeidbar ist und zu höheren Preisen, höheren Produktionskosten und höheren Ausgaben führt.
Wer bezahlt die Grünflation?
Seit den 1950ern und 1960ern sieht jedes Diagramm mit dem Dow Jones Industrial Average oder dem S&P 500 Index und dem Bruttoinlandsprodukt (BIP)1 aus wie das offene Maul eines Krokodils. Aktienmarkt und Wirtschaft entwickeln sich immer weiter auseinander, weil die Gewinne zulasten der Stakeholder – der Arbeiter oder der Umwelt – maximiert wurden.
Wegen der steigenden Kapitalkosten, der Repatriierung der Produktion, dem Wechsel von Einwegplastik zu recyceltem Plastik und aus vielen anderen Gründen kehrt sich das aber jetzt um. Die Wirtschaft wird dadurch nachhaltiger. Aber irgendwer muss es bezahlen.
Oft heißt es, dass die Verbraucher zur Kasse gebeten würden. Aber Verbraucher finden in der Regel Substitutionsprodukte, oft von Unternehmen mit einer nachhaltigeren Produktion.
*Grünflation ist eine Inflation, die durch höhere Investitionen in den Klimaschutz oder den Schutz vor den Folgen der Erderwärmung entsteht.
Wir erleben das schon heute. Die Nachfrage nach Elektro-Lkws ist hoch wie nie. Bei Benzin- und Diesel-preisen um 2,00 Euro scheinen sie sehr attraktiv. Öl- und Gaskonzerne erkennen, dass die Nachfrage nach ihren Produkten fallen wird. In den letzten Jahren haben sie immer weniger investiert und weniger neue Öl- und Gasfelder erschlossen. Wir glauben, dass der Angebotsschock und die hohen Preise anhalten, sodass die Elektromobilität noch interessanter wird.
Menschen und Märkte haben sich stets an neue Gegebenheiten angepasst. Sie werden sich auch an die höheren Preise, die Deglobalisierung und das größere Ungleichgewicht von Angebot und Nachfrage gewöhnen. Aber alles hat seinen Preis. Manchmal müssen ihn die Verbraucher bezahlen. Manchmal müssen die Unternehmen mit niedrigeren Margen leben.
Deshalb ist die Integration des Faktors ESG so wichtig: Man muss erkennen, was finanziell relevant ist und was nicht – und was bereits in den Kursen berücksichtigt ist. Unsere Credit-Analysten prüfen, inwieweit die Grünflation direkte Auswirkungen auf die Umsätze und indirekte Auswirkungen auf die EBITDAs hat, auf die Gewinne vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen. Außerdem analysieren sie, was sie für die freien Cashflows bedeutet und ob sie zu einer dauerhaft niedrigeren Nachfrage nach bestimmten Produkten führen kann.
Anmerkungen
1 Das Bruttoinlandsprodukt ist ein Maß für die Wirtschaftsleistung. Quellen: Bureau of Economic Analysis und US-Handelsministerium.
Die hier dargestellten Meinungen sind die der Autoren und können sich jederzeit ändern. Sie dienen ausschließlich Informationszwecken und dürfen nicht als Empfehlung, Aufforderung oder als Anlageberatung verstanden werden. Prognosen sind keine Garantien.