Kolumne

Mit „Vollgas“ in die Lohnverhandlungen

Eine Kolumne von FELIX HERRMANN

Der Blick auf den Kalender zeigt: Es ist noch lange nicht Winter. Die Temperaturen sind leider nicht mehr in den Sphären unterwegs, die das Tragen von kurzen Hosen zu einem uneingeschränkt komfortablen Erlebnis machen. Bibbern musste man bislang seit Ende dieses Sommers jedoch auch noch nicht. Dennoch haben sich die Gaspreise in Europa seit Jahresbeginn bereits jetzt im Frühherbst vervielfacht und sind auf neue Rekordstände geklettert.

Ursächlich für diesen historischen Preisanstieg ist gleich an ganzer Strauß an Dingen. Kurzfristig spielen etwa die im Sommer dieses Jahres erlebten Dürren in vielen Teilen der Erde eine Rolle. Länder wie China oder Brasilien produzieren gewöhnlich viel Strom aus Wasserkraft. Sie mussten und müssen nun jedoch auf Gas als Energiequelle ausweichen, um einen kompletten Shutdown ihrer Industrien zu vermeiden. Die Nachfrage auf den fragmentierten aber dennoch interdependenten globalen Gasmärkten ist somit bereits seit einiger Zeit ungewöhnlich hoch.

In Europa und ganz besonders in Deutschland kommen weitere Sondereffekte hinzu, die Engpässe in Sachen Gas begünstigten. So hat insbesondere Russland in den letzten Monaten weitaus weniger Gas geliefert, als es hätte liefern können. Wegen planmäßiger Wartungsarbeiten fielen zudem zeitweise wichtige Gas-Transportwege nach Deutschland aus. Massive Unterinvestitionen in die Förderstätten von Gas über den Verlauf der letzten Jahre sorgen zusätzlich dafür, dass generell in den kommenden Jahren eine strukturelle Angebotsknappheit droht, was Anlegern und Verbrauchern selbstredend auch im Kopf herumschwirren dürfte.

In den kommenden Monaten dürfte sich die Lage nicht entspannen. Im Gegenteil. Angesichts relativ niedriger Lagerbestände zeichnet sich in Europa – insbesondere im Falle eines besonders kalten Winters – eine noch dramatischere Gasknappheit ab. Zum aktuellen Zeitpunkt sind die Lager in Europa mit einem Füllstand von knapp 75 Prozent (Stand Anfang Oktober) signifikant leerer als zum gleichen Zeitpunkt in den Vorjahren. Wie schnell – und vor allem zu welchen Kosten – diese Lager bis zum Winter weiter gefüllt werden können, ist unsicher. Bei uns in Deutschland verspricht in diesem Zusammenhang zu allem Überfluss die Haltung der noch zu bildenden neuen Bundesregierung ein gewisses Maß an Spannung. In einer Ampelkoalition läge die SPD mit Grünen und FDP recht deutlich über Kreuz, was die Haltung zur neuen Pipeline Nord Stream 2 bzw. zu Gaslieferungen aus Russland generell betrifft. Die neue Pipeline ist fertig und die Inbetriebnahme der Leitung könnte zur Entspannung auf dem Gasmarkt in Europa beitragen. Das Milliardenprojekt muss allerdings noch zertifiziert werden, was ohne Frage ein hochpolitischer Akt werden könnte. 

Für die Inflationsentwicklung bis Jahresende verheißt diese Entwicklung aus Sicht der Zentralbanken und Rentenmarktinvestoren nichts Gutes. In der Eurozone fließt Energie mit einer Gewichtung von 9,5 Prozent in den Warenkorb zur Inflationsmessung ein, wobei flüssige Brennstoffe wie Benzin, Diesel und Heizöl mit rund 4 Prozent den größten Anteil bilden, gefolgt von Strom (2,9 Prozent) und Gas (1,9 Prozent). Die Inflationswirkung von Gas ist also etwas indirekter als die von Öl. Die Angebotsknappheit am Gasmarkt und die exorbitante Preisentwicklung treiben allerdings skurrile Blüten. Zum Beispiel weichen aktuell viele Verbraucher von Gas auf Öl aus. Der saudi-arabische Öl-Riese Saudi Aramco schätzt, dass aufgrund von Ausweicheffekten die Nachfrage nach Öl derzeit um 500 000 Fässer pro Tag höher liegt und somit auch dort zum starken Preisanstieg beiträgt. Da Gas auch zur Stromerzeugung genutzt wird, dürfte der Anstieg der Gaspreise letztlich viel weitreichendere Effekte auf die Preisentwicklung haben, als die Gewichtung um Warenkorb suggeriert.

Höhere Energiepreise könnten in den kommenden Monaten den Druck auf die Zentralbanken weiter erhöhen. Obwohl weiterhin vieles für einen am Ende nur temporären Anstieg der Preissteigerung spricht, steigt mit jedem Monat, in dem die realisierte Inflation hoch bleibt, auch bei uns hier in Europa die Gefahr von Zweitrundeneffekten. Bereits jetzt bereiten sich viele Gewerkschaften auf anstehende Tarifrunden vor. Im Jahr 2022 laufen bei uns in Deutschland zahlreiche Tarifverträge aus, darunter die im öffentlichen Dienst von Bund und Gemeinden oder aber auch im Bereich Chemie-, Metall- und Elektroindustrie. Die Lohnverhandlungen versprechen heiß zu werden.

Somit gilt: Die Energiepreise dürften in vielerlei Hinsicht bis auf Weiteres ein maßgeblicher ökonomischer Indikator für die Finanzmärkte bleiben – wenn nicht sogar der wichtigste Indikator.


Über den Autor:

Felix Herrmann, CFA, Chef-Volkswirt
ARAMEA Asset Management


Dies ist eine Kolumne von ARAMEA Asset Management im aktuellen FINANCIAL PLANNING Magazin. Hier geht es zur aktuellen Ausgabe: