Kolumne

Finanzwesen, Digitalisierung und das Metaversum

Von Untätigkeit zu Innovation

Eine Kolumne von DR. HENNING STEIN

Jahrelang zeigte die Finanzdienstleistungsbranche wenig bis gar kein Interesse an Innovation. Papierkrieg, lange Bearbeitungszeiten und hartnäckige Unerreichbarkeit waren an der Tagesordnung. Manche Bankmanager sollen die Genehmigung von Kreditanträgen von der Mitgliedschaft in bestimmten Golfclubs abhängig gemacht haben. Die Branche galt nicht als innovationsfreudig.

In letzter Zeit hat sich das Bild jedoch deutlich gewandelt. Die zunehmende Bedeutung von Fintechs zeigt, dass kaum eine Branche neue Ideen so begrüsst und fördert wie das Finanzwesen. Fortschritte wie Big Data, künstliche Intelligenz (KI) und maschinelles Lernen (ML) treiben die Digitalisierung in diesem Bereich voran.

Laut einer Studie der Weltbank, des World Economic Forum und des Centre for Alternative Finance der Cambridge Judge Business School sorgte Covid-19 letztes Jahr in beinahe jedem Fintech-Bereich für kontinuierliches Wachstum. Das Segment zeigte sich nicht nur widerstands- und anpassungsfähig, sondern entwickelte sich auch für viele Stakeholder äußerst vorteilhaft.

Die Pandemie hat den Wandel beschleunigt, und immer mehr Menschen nutzen Finanzdienstleistungen. Im Asset-Management, wo ich tätig bin, ist eine Demokratisierung beim Investieren zu beobachten. Konzepte wie Blockchain, Tokenisierung und Open Finance definieren die Grenzen des Möglichen in einem gigantischen Ausmaß neu.

Dennoch sollten wir nicht übersehen, dass sich auch andere Bereiche disruptiv entwickeln – einige sogar noch dynamischer. Manche dürften unsere Geschäftsabläufe und vor allem die Kundenbetreuung weiter transformieren. Solche Trends werden manchmal nicht als Fintech, sondern als Techfin bezeichnet.

Ein solcher Trend ist das Metaversum. Dieses Konzept gewinnt bei großen Technologieunternehmen und darüber hinaus zunehmend an Bedeutung. Seine Befürworter sind davon überzeugt, dass es zum Durchbruch gelangen und real werden wird. Es würde die Digitalisierung von Finanzdienstleistungen auf eine ganz andere Ebene bringen.

Was ist das Metaversum?

Für Isaac Asimov sollte ein Science-Fiction-Autor „das Unvermeidliche vorhersehen“. Offenbar hat sich dieser Leitsatz bestätigt, denn das Metaversum wurde vor knapp 30 Jahren im Science-Fiction-Roman Snow Crash zum ersten Mal erwähnt.

Der Autor des Buchs, Neal Stephenson, stellte sich eine virtuelle 3D-Welt vor, in der Menschen – in Form von Avataren – untereinander und mit verschiedenen Software-Elementen interagieren können. Ähnliche Konstrukte kamen später beispielsweise in Matrix und Ready Player One vor.

Einige der wichtigsten Proponenten der Technologiebranche wollen aus Science-Fiction nun Science-Fakten machen. So gab etwa Mark Zuckerberg, der CEO von Facebook, im Juni dieses Jahres als übergeordnetes Ziel seines Unternehmens bekannt, „dem Metaversum zum Durchbruch zu verhelfen“.

In einem späteren Interview sprach Zuckerberg von der Vision eines „verkörperten Internets“ und sagte: „Statt Inhalte nur anzusehen, sind Sie Teil davon. Sie spüren Ihre eigene Gegenwart und die anderer Menschen, als ob Sie sich an einem anderen Ort befänden. Sie erleben etwas, das über eine 2D-App oder eine Website kaum möglich wäre.“

Anders ausgedrückt: Halten Sie sich vor Augen, was heute per Smartphone, Laptop usw. möglich ist, beispielsweise Einkaufen, Kontaktpflege, Spielen, Livestreaming, Lesen, Lernen. Versuchen Sie dann, in diese Handlungen richtiggehend einzutauchen. Zuckerberg führte dazu weiter aus: „Die kleinen, rechteckigen Geräte mit ihren bunten Anzeigen sind aus unserem Leben und unserer Kommunikation nicht mehr wegzudenken. Ich glaube jedoch nicht, dass der Mensch für diese Art der Interaktion gemacht ist.“

Vielleicht gibt es drei überzeugende Gründe für das große Interesse der Investoren am Metaversum: Es könnte die Beziehung zwischen Kunden und Anbietern revolutionieren, die Vorstellung untermauern, dass Technologie die Performance steigern kann, und außerordentliche Anlagechancen bieten. Im Folgenden untersuchen wir jeden dieser Aspekte einzeln.

Intelligente Kontaktpflege und mehr

Aus organisatorischer Sicht wirkte sich die Covid-19-Krise verheerend auf die Kontaktpflege von Angesicht zu Angesicht aus. Untersuchungen zufolge war es für über zwei Drittel der Asset-Manager „schwierig“, keine persönlichen Kontakte pflegen zu können.

Innovation sorgte hier schnell für Abhilfe. Videokonferenz-Plattformen wie Teams und Zoom ermöglichten eine neue Normalität. Viele Finanzdienstleistungsunternehmen haben davon profitiert, dass sie solche Instrumente nicht nur als vorübergehende Notlösungen gesehen haben.

Solche Plattformen können ihre Wirkung fast unmittelbar entfalten, indem man sie mit wegweisenden Tools für virtuelle Meetings und damit verbundenen Analyse- und Diagnosefunktionen sowie anderen Informationsquellen kombiniert. Dadurch ist „intelligente Kontaktpflege“ möglich geworden, die sogar Mehrwert für persönliche Gespräche liefern kann – beispielsweise, indem Kunden relevante Einblicke und Daten auf Anfrage unmittelbar erhalten.

Dies ermöglicht ein System zur Entscheidungsunterstützung in Echtzeit, das Alphaquellen außerhalb des Investmentprozesses erschließen kann. Bereits Anfang dieses Jahres führte Colin Fitzgerald, Vertriebsleiter bei Invesco für die Region EMEA, intelligente Kontaktpflege als klassisches Beispiel für Abläufe an, die man nicht nur anders, sondern besser machen kann.

Natürlich wird an diesem Ansatz vor allem das Fehlen menschlicher Dynamik kritisiert, die traditionellerweise von zentraler Bedeutung für einen vertrauensvollen Austausch zwischen Kunden und Anbietern ist. Dieselbe Kritik richtet sich auch gegen viele Elemente „reibungsloser“ digitaler Finanzdienstleistungen.

Das Metaversum könnte diesen Nachteil größtenteils beseitigen. Ein Kunde und ein Berater könnten bei einer virtuellen Besprechung alle Vorteile des digitalen Finanzwesens nutzen und zugleich in einem gemeinsamen 3D-Raum „präsent“ sein, wie ihn Stephenson bereits vor knapp drei Jahrzehnten beschrieben hat.

Performance durch Fortschritt

Innovation hat sich in zahlreichen Bereichen immer wieder als Performancetreiber erwiesen. Dass die Finanzbranche da keine Ausnahme bildet, hat sich insbesondere in den letzten Jahren gezeigt.

Die Finanzwissenschaft hat von der Überfülle an Daten sowie dem Einsatz von KI und ML zweifellos profitiert. Daten sind für beinahe jede Anlageentscheidung von zentraler Bedeutung geworden. Wir alle haben erkannt, dass Maschinen für die Analyse riesiger Datenmengen viel besser geeignet sind als der Mensch.

Es sei jedoch erneut darauf hingewiesen, dass der Mensch deshalb nicht ausgedient hat. Die Kunden im Finanzdienstleistungssektor – wie Konsumenten im Allgemeinen – werden immer kundiger und versierter. Viele sind sich der möglichen Grenzen ausschließlich algorithmengesteuerter Abläufe bewusst.

Es ist ideal, wenn man die jeweiligen Stärken maximiert. Kunden schätzen den Nutzen von Daten, KI und ML. Sie legen aber genauso viel Wert auf das Fachwissen, die Orientierungshilfe und Bestätigung, die sie von anderen Homo sapiens erhalten.

Auch hier sollte das Metaversum auf dem Fundament aufbauen, das die Fintech-Branche bereitet hat. Man könnte zunächst KI und ML die „großen Brocken“ der Analyse überlassen und anschließend einen Portfoliomanager die daraus resultierenden Entscheidungen erläutern lassen.

Der Risikokapitalgeber Matthew Ball hat festgestellt, dass wir uns in Richtung „einer Erfahrungswelt bewegen, die sowohl die digitale als auch die physische Welt umfasst … [mit] noch nie dagewesener Interoperabilität von Daten, digitalen Elementen/Assets, Inhalten usw.“ Dabei könnte das Metaversum als einzigartiger Raum dienen, in dem Computer und Menschen ihre jeweiligen Vorzüge ausspielen können – und bessere Ergebnisse ermöglichen.

Spitzhacken und Schaufeln

Drittens könnten wir vom Metaversum auch finanziell profitieren. Erweiterte/virtuelle Realität (AR/VR) wird seit Kurzem als die nächste große Sache propagiert. Das Metaversum dürfte aber noch darüber hinausgehen.

Doch es sind nicht nur die großen Technologieunternehmen, die „dem Metaversum zum Durchbruch verhelfen“ wollen. Zahlreiche weniger beachtete Marktakteure verfolgen dasselbe Ziel. Als Facebook 2015 den VR-Spezialisten Oculus übernahm, befürwortete Zuckerberg auch den Kauf von Unity, eines führenden Entwicklers von Spiele-Engines. Unity will „das 3D-Betriebssystem der Welt“ werden.

Wie im Falle des Internets wird auch das Metaversum per se niemand „besitzen“. Einige werden es jedoch stärker beeinflussen als andere. Dieser Trend konkretisiert sich gerade, wird aber nicht über Nacht eintreten. Vielerlei Akteure, von Einzelpersonen über Start-ups bis hin zu internationalen Unternehmen, dürften zur Schaffung und zum Betrieb beitragen.

Das erinnert einmal mehr an die Euphorie des Goldrausches der 1840er- und 1850er-Jahre in Kalifornien. Vielleicht wäre es wieder am vernünftigsten, in die sprichwörtlichen Spitzhacken und Schaufeln zu investieren: Unternehmen, die ein Produkt ermöglichen, statt es selbst herzustellen.

Zudem sollte man nicht übersehen, dass erfolgreiches Investieren üblicherweise langfristig ausgerichtet ist. Vielleicht wird das Metaversum erst in vielen Jahren Realität. Wie jedoch die Erfahrung ehemals verborgener Perlen zeigt, die von weitreichenden Umwälzungen wie dem weltweiten Netz und Smartphones profitierten, sind Weitblick und Geduld wichtige Tugenden aller Investoren.

Innovation und Digitalisierung schreiten im Finanzdienstleistungssektor nach wie vor dynamisch voran, da sowohl Fintechs als auch Techfins ständig Neuland betreten. Dies ist eine faszinierende Zeit für Anbieter, Kunden, Investoren und Stakeholder – und die Zukunft dürfte noch faszinierender werden.


Über den Autor:

Dr. Henning Stein, Global Head of Thought Leadership,

Fellow, Cambridge Judge Business School, Invesco Asset Management


Dies ist eine Kolumne von Invesco Asset Management in dem aktuellen FINANCIAL PLANNING Magazin. Hier geht es zur aktuellen Ausgabe:


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Stand der Daten

30.09.2021 sofern nicht anders angegeben. Herausgegeben von Invesco Asset Management Deutschland GmbH, An der Welle 5, 60322 Frankfurt am Main, Deutschland.  EMEA 1872306/ 2021