Kolumne

Nachhaltige Städte – mehr ESG geht nicht

Warum Dystopien ausgedient haben könnten

Städte scheinen viele der gravierendsten Fehlentwicklungen unserer Zeit zu verkörpern: von der Luftverschmutzung und der Verkehrsüberlastung über Infrastrukturmängel bis hin zur sozialen Ungleichheit. Nutzen und Vorteile städtischer Strukturen geraten da leicht in Vergessenheit.

Mit dem ESG-Zeitalter, in dem Umweltaspekte, soziale Faktoren und Governance-Kriterien immer stärker im Fokus stehen, eröffnet sich die Chance, diese Wahrnehmungen zu verändern. Und nicht nur das: Wir haben sogar die Chance, die Realität zu verändern – und unsere Städte zum Sinnbild des sich endlich weltweit durchsetzenden Nachhaltigkeitsgedankens zu machen.

Der Begriff „nachhaltige Städte“ findet immer mehr Eingang in den alltäglichen Sprachgebrauch. Doch was ist damit eigentlich gemeint? Mancher mag dabei an Szenen aus einem Science-Fiction-Film denken, nur an welche Art von Film?

Schließlich zeichnen die meisten dieser Filme ein sehr düsteres Bild der Zukunft. Verwunderlich ist das nicht – Dystopien, die problematische gesellschaftliche Entwicklungen weiterspinnen, sind einfach spannender als Visionen einer perfekten Gesellschaft.

So aber zeigen uns Sci-Fi-Filme vor allem, wie nachhaltige Städte nicht aussehen sollten – man denke nur an den beklemmenden, von Neonreklame glühenden Großstadtmoloch in Blade Runner, die künstlich beleuchtete Untergrundanlage in THX 1138, die riesigen, ruhelos arbeitenden Maschinen der monumentalen Megastadt in Metropolis oder die entmenschlichte Stadt in Alphaville. Soweit möglich, sollten nachhaltige Städte das genaue Gegenteil einer Dystopie sein: nämlich eine Utopie.

Das mag wirklichkeitsfremd klingen, aber denken wir nur einmal daran, was wir erreichen könnten: Städte, die neueste Technologien und Hyperkonnektivität mit einer hohen Lebensqualität und einem authentischen Gemeinsinn verbinden. Im Vergleich zu dem, was derzeit als normal hingenommen wird, qualifiziert sich das fraglos als Utopie.

Wie ließe sich eine solche Vision realisieren? Wie bei den meisten Aspekten von ESG werden vermutlich vor allem langfristiges Denken und Geduld gefragt sein. Zur Veranschaulichung können wir uns kurz die Geschichte einer Stadt ansehen, die bereits wesentliche Schritte in eine nachhaltige Richtung unternommen hat.

Von „Sin City“ zu „Sustainable City“

Den Spitznamen der Casino-Hauptstadt der USA kennen viele – dass die „Sin City“ Las Vegas heute auch eine der nachhaltigsten Städte der USA ist, wissen dagegen nur die wenigsten. Den Weg zum ESG-Vorreiter hat die Stadt bereits vor 30 Jahren eingeschlagen, als mit Jan Jones Blackhurst die erste Frau Bürgermeisterin von Las Vegas wurde.

Über meine Teilnahme am ESG Competent Boards-Programm habe ich das Glück gehabt, Jan persönlich kennenzulernen. Sie erklärt den überraschenden Wahlsieg im Jahr 1991 mit dem Zusammenspiel von drei Faktoren, die geholfen haben, den Weg für die Transformation von Las Vegas zu ebnen.

Der erste war der ausgeprägte Unternehmergeist, der die Stadt schon damals prägte. Der zweite war das Vertrauen ihrer Wähler in ihre Fähigkeit, nötige Veränderungen anzustoßen. Der dritte war die Unterstützung, die sie von unterrepräsentierten Gruppen erhielt.

In der Folge war Jan Jones Blackhursts Amtszeit von Koalitionsbildung und einem „progressiven“ Ethos bestimmt. Eine spannende kommerzielle Entwicklung in Verbindung mit der Einbindung marginalisierter Gruppen, die zuvor kaum Gehör gefunden hatten, führte zu einem enormen Wirtschaftswachstum – und einem grundlegenden Umdenken. Heute, drei Jahrzehnte später, gilt Las Vegas in vielerlei Hinsicht als ESG-Vorreiter.

Die Stadt versorgt sich komplett aus erneuerbarer Energie. Sie ist vorbildlich im sparsamen Umgang mit Wasser. Sie ist Standort des neuen unterirdischen elektrischen Transportsystems von Elon Musk. Sie ist erfolgreich, sicher und vor allem nachhaltig.

In Las Vegas hat sich auch gezeigt, wie wichtig eine gute Zusammenarbeit von privatem und öffentlichem Sektor ist, weil die Probleme unserer Städte systemische Probleme sind – für die es also auch systemischer Lösungen bedarf.

Die Umweltherausforderung

Das wohl drängendste dieser systemischen Probleme betrifft das E in ESG – die Umwelt – und hier vor allem Treibhausgasemissionen und Luftverschmutzung. Denn Gebäude haben maßgeblichen Anteil an einigen der größten Bedrohungen für unseren Planeten und seine Bewohner.

Untersuchungen legen zum Beispiel nahe, dass Gebäude bis zu 40 % aller CO2-Emissionen weltweit verursachen. Luftverschmutzung ist das weltweit größte umweltbedingte Gesundheitsrisiko, das für etwa sieben Millionen Todesfälle pro Jahr verantwortlich ist. Außerdem verbrauchen Gebäude etwa 60 % des gesamten Stroms, 40 % der gesamten Energie und 25 % des gesamten Wassers.

Doch wenn Gebäude ein wesentlicher Teil des Problems sind, können sie natürlich auch einen wesentlichen Teil zu dessen Lösung beitragen. Eine wirklich nachhaltige Entwicklung in diesem Bereich sicherzustellen ist jedoch keine leichte Aufgabe.

Der Kohlenstoffgehalt von Gebäuden – und damit der durch Bau und Abriss entstehenden Emissionen – kann eine beträchtliche Hürde darstellen. Häufig zwingt dies die Bauträger dazu, mit dem zu arbeiten, was bereits besteht, anstatt etwas komplett Neues zu erschaffen. Ohne den Luxus eines solchen Neustarts ist die Realisierung nachhaltiger Lösungen schwierig.

Zudem reicht es nicht aus, dass Gebäude die Auswirkungen des Klimawandels und anderer Umweltprobleme mindern. Sie müssen sich anpassen, und dafür müssen neue Ideen umgesetzt werden.

Um die Resilienz und Umweltverträglichkeit von Immobilien zu stärken, bedarf es daher auch innovativer, disruptiver Denkansätze. Das kann ganz einfach bedeuten, mehr Bäume zu pflanzen oder ein „intelligentes“ Wassermanagement zu betreiben – oder es werden „städtische Wärmeinsel“-Effekte einbezogen oder Maßnahmen zum Schutz der Biodiversität ergriffen.

All dies verdeutlicht, dass wir Immobilien aus zwei unterschiedlichen, aber untrennbar miteinander verbundenen Perspektiven betrachten müssen. Wir können sie als Quelle globaler Risiken betrachten – oder als Quelle eines langfristigen Nutzens für verschiedene Stakeholder.

Umweltaspekte sind nicht alles

So wichtig und naheliegend das E auch ist – das S und das G in ESG dürfen ebenfalls nicht vergessen werden. Nachhaltige Städte sollten zu positiven gesellschaftlichen Entwicklungen beitragen und durch eine gute Governance untermauert sein.

Bei seinen Immobilienanlagen adressiert Invesco im Dialog mit den Immobilienverwaltern unterschiedliche Nachhaltigkeitsaspekte. Wir unterstützen Mieter und das Gemeinwesen vor Ort bei der Anwendung nachhaltiger Praktiken. Wir fördern Diversität und Inklusion. Wir setzen uns für eine transparente Offenlegung von Strategie und Performance ein.

Anders ausgedrückt betrachten wir Immobilien nicht nur als Bauwerke. Ein solcher Ansatz würde dem Konzept der Nachhaltigkeit komplett zuwiderlaufen. Stattdessen betrachten wir Immobilien als Mechanismus zur Wahrung und Stärkung von Wohlergehen und Wohlstand.

Das bedeutet, Gebäude als das zu betrachten, was sie sind – Orte, an denen Menschen leben und arbeiten. Es bedeutet anzuerkennen, dass sie eine wichtige Rolle für die Definition von Lebensqualität und die Verbesserung von Gesundheit und sozialem Zusammenhalt spielen.

Wir können belegen, dass dieser Ansatz funktioniert. Eine weitreichende Auswirkung dieses Ansatzes ist ein größeres Wohlbefinden. Studien haben gezeigt, dass sich die Bewohner „grüner“ Gebäude durch bessere kognitive Fähigkeiten auszeichnen, psychisch gesünder und weniger anfällig für Krankheiten sind und weniger häufig bei der Arbeit fehlen.

Dies wird auch von den politischen Entscheidungsträgern zunehmend erkannt. In verschiedenen Untersuchungen wurde eine schlechte Belüftung von Gebäuden mit Asthma, Kopfschmerzen, Müdigkeit, Kurzatmigkeit, Übelkeit, Schwindel und anderen Beschwerden sowie mit einer verminderten Produktivität in Verbindung gebracht. Präsident Bidens American Rescue Plan sieht Ausgaben von mehr als 120 Mrd. USD für die Schulinfrastruktur vor und nennt die Belüftung als eine Priorität.

Anliegen wie diese müssen wir berücksichtigen, wenn wir über echte Nachhaltigkeit sprechen. Es geht nicht nur darum, die Luftverschmutzung zu reduzieren oder weniger Wasser zu verbrauchen. Antworten auf diese komplexe, vielschichtige Herausforderung müssen auf einer soliden Datenbasis, einem intensiven Austausch mit allen Stakeholdern und zukunftsorientiertem Denken gründen.

Gemeinsamer Ansatz für eine gemeinsame Zukunft

Eine kürzlich von mir moderierte Diskussionsrunde mit Politikern, Aktivisten und Immobilieninvestoren schloss mit der Frage, was eine wirklich nachhaltige Stadt ausmacht. Zwei Merkmale haben mich besonders überzeugt.

Das erste ist ein veränderter Lebensstil. Dazu dürfte die schrittweise Abschaffung der größten Verursacher von Treibhausgasemissionen und Luftverschmutzung, einschließlich benzinbetriebener Autos, gehören, aber auch finanzielle Anreize, durch die Nicht-Handeln teurer wird als Handeln, sowie ein stärkerer Fokus auf Anpassung an Stelle von Minderung.

Das zweite, wie im Beispiel Las Vegas, ist eine Erfolgs- und Sicherheitskultur, die auf Generationen hinaus Bestand hat. Die Grundlagen dafür sind ganzheitliches Denken und ein Bewusstsein dafür, dass Menschen nicht mehr nur ein Dach über dem Kopf wollen: Sie wollen ein Zuhause, einen Lebensmittelpunkt und einen Ort, an dem sie sich in jeder Hinsicht entfalten können.

Städte wie Las Vegas zeigen, was möglich ist. Von denjenigen, die bereits erfolgreich städtische Transformationsprozesse vorangetrieben haben – wie Jan Jones Blackhurst –, wissen wir, worauf es hier ankommt: eine absolute Verpflichtung zu diesem Prozess und eine systematische Umsetzung der vereinbarten Ziele.

Erwähnenswert ist auch, dass schätzungsweise die Hälfte der Technologien, die für die „intelligenten“ Aspekte nachhaltiger „Smart Cities“ gebraucht werden, noch nicht erfunden worden sind. Dadurch eröffnen sich herausragende Geschäfts- und Anlagechancen für Unternehmen und Investoren.

Mit Blick in die Zukunft wird eine gute Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Stakeholdern entscheidend sein. Die politischen Entscheidungsträger müssen die Richtung vorgeben und Anreize schaffen, Unternehmen und Unternehmer müssen ihren Erfindungsreichtum und ihre Kompetenzen einbringen, um vielversprechende nachhaltige Lösungen zu entwickeln, und Investoren müssen ihr Kapital mit Umsicht und Weitsicht einsetzen.

Nichts davon wird von einem auf den anderen Tag passieren. Auch Las Vegas hat 30 Jahre gebraucht, um dahin zu kommen, wo es heute steht. Aber wenn wir alle zusammenarbeiten – und wenn uns die Zukunft wirklich am Herzen liegt – können wir nachhaltige Städte Wirklichkeit werden lassen.


Autor:
Dr. Henning Stein
Global Head of Thought Leadership
Fellow, Cambridge Judge Business School
Invesco Asset Management


Dies ist eine Kolumne von Invesco Asset Management im aktuellen FINANCIAL PLANNING Magazin.