Kolumne

ESG: Nur ein Hype oder wird hier Geschichte geschrieben?

Von der Randerscheinung zum Mainstream … zum ausgefahrenen Gleis?

Wann wird das beruhigend Vertraute zum beunruhigenden Klischee? Betrachtet man die Erklärungen vieler Finanzdienstleister, Unternehmen, Regierungen und anderer Institutionen, wird man feststellen, dass alle mehr oder weniger dasselbe sagen, wenn sie die Vorzüge von ESG (Environmental, Social und Governance bzw. auf Deutsch: Umwelt, Soziales und Unternehmensführung) herausstellen.

Im Vordergrund stehen die Nachhaltigkeit, die Sicherung der Zukunft und das Allgemeinwohl. Dynamiken wie existenzielle Bedrohungen, Verbraucherbewusstsein und regulatorischer Druck werden betont. Zudem wird auf treuhänderische und moralische Pflichten, langfristige Ziele und die Bedeutung der Zuweisung von Mitteln hingewiesen, um damit eine positive und nachhaltige Wirkung zu erreichen.

Natürlich lässt sich diese thematische Monotonie als positive Entwicklung interpretieren. Sie könnte darauf hindeuten, dass der Übergang von ESG vom Rand der Aufmerksamkeit hin zur Mitte jetzt so weit fortgeschritten ist, dass alles in bester Ordnung ist. Diese Einigkeit könnte der Beweis dafür sein, dass alle Beteiligten am gleichen Strang ziehen und dass wir die Reise in eine schöne neue Welt angetreten haben.

Aber mir kommen immer mehr Zweifel. Die einhellige Meinung zu ESG könnte genauso gut bedeuten, dass sich dieses Thema, nachdem es im Mainstream angekommen ist, nun auf ausgefahrenen Gleisen bewegt. Sie könnte bedeuten, dass jeder die Kunst des Redens beherrscht, ohne dafür zu sorgen, dass den Worten Taten folgen. Sie könnte vor allem aber bedeuten, dass der wichtigste Investitionstrend unserer Zeit dem Hype und der Selbstzufriedenheit ausgeliefert ist.

Hier geht es um mehr als „Greenwashing“. Es geht darum, wie wir uns den größten Herausforderungen stellen, mit denen unser Planet und dessen Bewohner konfrontiert sind. Letztendlich geht es um entschlossenes Handeln – darum, welche Richtung wir eingeschlagen haben, welches Ziel wir verfolgen und wie wir es erreichen wollen.

Ich habe die Entwicklung rund um ESG in den vergangenen 20 Jahren hautnah miterlebt. Ich erinnere mich sogar noch an die Zeit, als das, was heute modisch als „Stakeholder-Kapitalismus“* bezeichnet wird, fast ausschließlich als sozial verantwortliches Investieren (Socially Responsible Investing, SRI) bekannt war. Ich war an der Einführung eines der ersten SRI-Programme für den Retailmarkt beteiligt sowie daran, wegweisende Initiativen in Schwellenländern zu schaffen und eines der besten ESG-Managementteams in Europa aufzubauen.

Ich habe also viele Veränderungen in diesem Bereich erlebt, die überwiegende Mehrheit davon zum Besseren. Aber jetzt muss sich wieder etwas ändern – und zwar bald.

Ist ESG, wie wir es kennen, wirklich nachhaltig?

Jemand, der bei der Diskussion über ESG sicherlich nicht ins gleiche Horn bläst, ist Tariq Fancy, ehemaliger CIO für nachhaltiges Investieren bei BlackRock. In einer Reihe hochkarätiger Interviews hat er davor gewarnt, dass ESG – insbesondere im Hinblick auf die Klimakrise – kaum mehr als ein gewaltiges Ablenkungsmanöver geworden sein könnte.

Fancy kam 2017 zu BlackRock. Er hatte den Auftrag, die Vision von CEO Larry Finks zu verwirklichen, die Macht der freien Marktwirtschaft zur Bekämpfung von Umweltkatastrophen zu nutzen. Er verließ das Unternehmen 2019, nachdem er zu dem Schluss gekommen war, dass das Konzept des Stakeholder-Kapitalismus nur „leeres Marketing“ ist, die Argumente dafür verworren und nicht überzeugend sind und ESG insgesamt [K1] ein riesiges gesellschaftliches Placebo darstellt, bei dem wir glauben, Fortschritte zu machen, obwohl dies nicht der Fall ist“.

Warum vertritt Fancy diese Auffassung? Er argumentiert, dass Kurzfristigkeit nicht zuletzt in einer Zeit, in der die Amtszeiten der CEOs kürzer und besser bezahlt werden als je zuvor, eine enorme Anziehungskraft habe und dass die meisten Unternehmen daher immer noch „profitgetriebene Maschinen“ seien. Seiner Meinung nach lässt sich mit Verantwortungslosigkeit, obwohl wir uns das vielleicht anders wünschen, häufig Geld machen. Desinvestition hält er für einen unkoordinierten Versuch, der zu keinem konkreten Ergebnis führt.

In diesen Behauptungen steckt sicherlich mehr als nur ein Funken Wahrheit. Von allen Kritikpunkten, die Tariq Fancy anspricht, stimme ich einem ganz besonders zu, nämlich dass die Investmentgemeinschaft die Probleme der Welt nicht allein lösen kann.

An diesem Punkt nimmt die allgemein verbreitete ESG-Geschichte ihre wenig hilfreiche und unrealistische Wendung. Investitionen spielen eine enorme Rolle bei der Bekämpfung der Erderwärmung und anderer drängender Probleme – zumindest wird das in jeder Erklärung bezüglich ESG deutlich zum Ausdruck gebracht. Aber es ist unrealistisch und schädlich, sie für ein Allheilmittel zu halten.

Wie ich bereits in früheren Artikeln ausgeführt habe, erfordern systemische Probleme systemische Lösungen. COVID-19 hat gezeigt, was möglich ist, wenn der öffentliche und der private Sektor ein Gefühl der Dringlichkeit teilen und zusammenarbeiten. Im Vergleich dazu ist der angeblich kollektive Ansatz bei vielen ESG-Überlegungen immer noch fragmentiert und unkoordiniert.

Dies gilt für viele Bereiche: von Umweltverschmutzung bis Tierschutz, von Ernährungssicherheit bis zu sozialer Ungleichheit. In den meisten Fällen fehlen die Grundlagen für Zusammenarbeit und Kohärenz. Und allzu oft ist nur die Rhetorik der einzige gemeinsame Nenner.

Zwei Denkfehler im Zusammenhang mit ESG

Der erste Denkfehler, den es zu vermeiden gilt, besteht darin, beim Anpreisen der Verdienste von ESG zu implizieren, dass die Investmentgemeinschaft allein in der Lage ist, die Zukunft zu sichern, dem Allgemeinwohl zu dienen, existenziellen Bedrohungen entgegenzuwirken und noch vieles mehr.

Zugegeben, viele dieser Ziele lassen sich ohne Anleger nicht umsetzen. Gleichermaßen können Anleger sie jedoch nicht ohne die maßgebliche Beteiligung anderer erreichen – allen voran der politischen Entscheidungsträger.

Wie ich bereits in einem früheren Artikel festgestellt habe, sind viele der ESG-Verpflichtungen, für die sich die Verantwortlichen in der Politik einsetzen, in ihren Forderungen unzureichend definiert und in ihren Zielen äußerst bescheiden. Nur wenige davon lassen sich als einschneidend im Hinblick auf ihr Innovationspotenzial bezeichnen. Im Großen und Ganzen können diese Verpflichtungen als inkrementell und zweckmäßig eingestuft werden.

Investitionen dürfen nicht als dauerhaftes Heilmittel zur Behebung aller Mängel angesehen werden. Eine solche Denkweise steht im Mittelpunkt des Placebo-Effekts, vor dem Tariq Fancy warnt, und verlängert lediglich den Status quo entfernter Ziele und halbherziger Vorschläge. Je mehr diese Denkweise gefördert wird – ob absichtlich oder nicht –, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, einen bedeutsamen Fortschritt zu erzielen.

Und damit kommen wir zum zweiten Denkfehler, den es beim Anpreisen der Vorzüge von ESG zu vermeiden gilt: den Eindruck zu erwecken, dass die Arbeit praktisch erledigt ist. Sie hat gerade erst angefangen. Es gibt noch enorm viel zu tun – und es besteht eine scheinbar anhaltende Abneigung, die Aufgaben tatsächlich in Angriff zu nehmen.

Was wäre alles möglich, wenn Investoren, politische Entscheidungsträger und andere Interessengruppen ihre Bemühungen koordinierten? Was könnte man erreichen, wenn die ESG-Ziele genauso konsequent umgesetzt werden würden wie beispielsweise die Maßnahmen, die mit der Pandemie verbunden sind?

Dies ist eine verlockende Aussicht, die aufgrund der genannten Denkfehler in den Hintergrund gedrängt wird. Die kommenden Jahre bieten unter Umständen nicht nur das spektakulärste Geschäftspotenzial in der Geschichte, sondern auch eine beispiellose Chance, nahezu jeden Aspekt unseres Lebens zu verbessern.

Eine gute Gelegenheit ergreifen

ESG kann für einen positiven und nachhaltigen Wandel von zentraler Bedeutung sein, wie ich bereits ausgeführt habe. Genau wie bei ähnlich abgenutzten Pendants zeigt sich aber eine fundamentale Wahrheit: Es wird nicht genug getan, um den Beweis einer Wirksamkeit zu erbringen.

Das Bundesverfassungsgericht hat dies kürzlich durch ein Urteil unterstrichen, demzufolge die Klimaschutzmaßnahmen der Bundesrepublik verstärkt werden müssen, soll der Rückgang der Emissionen beschleunigt werden. Studien haben zudem ergeben, dass bis 2030 weltweit 90 Billionen US-Dollar für eine umweltfreundliche Infrastruktur ausgegeben werden müssen, wobei voraussichtlich 4 US-Dollar für jeden investierten US-Dollar als Gewinn zurückgeführt werden können; dass grüne Energie und mutige Klimaschutzmaßnahmen wirtschaftlich sinnvoll sind; und dass die Anpassung im Gegensatz zur Eindämmung immer noch nur einen winzigen Bruchteil der Klimafinanzierung ausmacht.

Mit der notwendigen Zusammenarbeit und Dynamik könnte ESG wirklich alles verändern. Grüne Technologie wäre in der Lage, uns weit mehr als CO2-Neutralität zu bringen. Energie ließe sich ganz neu erfinden. Die Herstellung und der Verbrauch von Lebensmitteln könnten revolutioniert werden. Die Umgestaltung von Handel, Produktion und Städten ließe sich vorantreiben, wobei ESG die zunehmende Verbreitung von Künstlicher Intelligenz (KI) und 5G ergänzen würde. Ungleichheit und andere soziale Missstände könnten vollständig ausgerottet werden.

Vielleicht klingt das alles auch nur nach dem, was Fancy „leeres Marketing“ nennt – aber es ist nur so lange leer, bis den Worten Taten folgen. Genau wie Fancy behaupte ich nicht, dass die Beschäftigung mit ESG letztendlich vergebene Liebesmüh ist: Aber wir müssen das Thema auf eine andere Ebene bringen, indem wir uns vom Hype abkehren und anfangen, Geschichte zu schreiben.

Dies kann nur geschehen, wenn wir uns entschließen, die aktuelle Klischeekultur hinter uns zu lassen. Wir müssen bereit sein, radikale Innovationen zu unterstützen. Die politischen Entscheidungsträger müssen sich zusammenschließen, die Marschrichtung vorgeben und Entschlossenheit demonstrieren. Sicher können wir einige Fortschritte feiern – zum Beispiel das gigantische 2 Billionen US-Dollar schwere Infrastrukturpaket der USA sowie den 1,8 Billionen Euro umfassenden Aufbauplan der EU-Kommission nach COVID-19. Aber wir müssen auch akzeptieren, dass wir noch sehr weit von unserem Ziel entfernt sind.

Darüber hinaus müssen wir aufhören, ESG nur aus dem Blickwinkel der Risikominderung zu betrachten. Es geht hier auch um Chancen – ein Mittel, um die Leistung über Jahrzehnte hinweg zu verbessern und eine grünere Welt zu schaffen, die zugleich sicherer und gerechter ist.

Eingangs erwähnte ich eine „beruhigende Vertrautheit“ von ESG. Vielleicht sollten wir uns daran erinnern, dass Vertrautheit Verachtung erzeugen kann. Ich glaube seit fast einem Vierteljahrhundert fest an ESG und werde dies auch weiterhin tun. Aber es ist Zeit für einen ambitionierteren und besser abgestimmten Streckenplan – der uns aus den ausgefahrenen Gleisen und in die Zukunft lenkt, die wir uns alle wünschen sollten.


Autor:
Dr. Henning Stein
Global Head of Thought Leadership
Fellow, Cambridge Judge Business School
Invesco Asset Management

*Stakeholder-Kapitalismus ist ein Gelöbnis, die Geschäfte im Dienste aller Anteilsinhaber auszuführen statt im Dienste von Gewinnen und Renditen.


Dies ist eine Kolumne von Invesco Asset Management im aktuellen FINANCIAL PLANNING Magazin.